Logos und Chaos
oder
Ruhezustand durch Spannung

Auszüge aus einem Gespräch zwischen Reinhild Gerum, Erika Wäcker-Babnik und Stefan Graupner am 23. November 2011 im Atelier der Künstlerin

Erika Wäcker-Babnik und Stefan Graupner:
In Ihren Ausstellungen und vor allem in Ihrem Katalog finden sich auffallend viele Texte. Was sind das für Texte und was haben sie mit den Installationen zu tun?

Reinhild Gerum:
Die Texte rühren alle aus meinem Leben. Ich habe diese Geschichten alle einmal gehört. Selten kombiniere ich diese auch mit Notizen aus der Zeitung, in der man solche Geschichten ebenfalls lesen kann. Diese Geschichten kommen aus meinem Freundeskreis, aus meinem weiteren Bekanntenkreis, teilweise vom Hörensagen, und sie kommen sehr stark aus der Psychiatrie, wo ich seit über zwanzig Jahren bildnerisch mit Klienten arbeite. Hier kann ich oft etwas aus dem Leben meiner Klienten hören. Das sind zum Teil sehr anrührende, mich anrührende Geschichten. Wenn sie mich interessieren, dann protokolliere ich sie für mich. Es handelt sich um eine Sammlung, die ich zunächst absichtslos angefangen habe, eine Sammlung von Geschichten, die ich nicht vergessen möchte; immer dann, wenn mich etwas so berührt, dass ich es nicht vergessen möchte, dass ich den Eindruck habe, das muss noch einmal irgendwie in Erscheinung treten. Das, was ich gehört habe, muss noch einmal verwandelt werden zu etwas anderem.

Was interessiert Sie an den Geschichten ganz speziell?
Die Menschen erleben Dinge schicksalhaft, sind in diese Vorgänge ihres Lebens hineingeworfen: durch politische Umstände, durch persönliche Umstände wie Krankheit, Verlust eines Partners, aber auch durch Verfolgung und politische Veränderungen. Diesen Menschen wollte ich eine Art Denkmal setzen. Es ist für jeden Betrachter nützlich sich vor Augen zu führen, was diese Menschen erlebt haben und was diese Geschichten ihnen selber sagen. Es ist nützlich sich zu überlegen, wie wohlbehütet man lebt und wie schnell sich das ändern kann. Alle diese Geschichten beinhalten diese Botschaft, sich das zu überlegen.

Wenn man einen Text liest, ist er rein assoziativ. Nach welchen Kriterien wählen Sie Ihre Geschichten aus und nach welchen Kriterien werden sie ins Bildnerische übersetzt?
Für all diese Installationen ist jeweils das Thema für mich sehr wichtig. Ob es das Thema Flucht oder das Thema Vergewaltigung ist, ich habe mir vorgenommen, diese Themen zu bearbeiten. Ich suche dann danach, was dafür die richtigen Geschichten sind, sowohl im Kopf als auch in meinem Archiv. Beim Schiff war es so: Ich hatte zwar schon einen großen Fundus an Fluchtgeschichten, aber ich wollte einfach noch mehr afrikanische Fluchtgeschichten. Weil sie aktuell sind. Deshalb habe ich ganz systematisch versucht mit Schwarzafrikanern ins Gespräch zu kommen, z.B. im Erstaufnahmelager in Zirndorf. Nach einer belanglosen Plauderei fragte ich: Wie sind Sie denn hergekommen? Was war da los? Manchmal kam ich dadurch noch an sehr anrührende und aufrührende Geschichten. Das Thema nimmt den Ausgang immer aus dem Fundus. Aber ich gehe frei um mit den Geschichten, d.h. ich kürze, ich collagiere, und aus den Geschichten werden Texte.

Und die Umsetzung ins Bildnerische?
Die Form muss immer so sein, dass auf keinen Fall Sentimentalität entsteht. Ich glaube, dass bei der äußeren Form eine große Strenge notwendig ist, weil alleine die Geschichten schon so heftig sind...

...Sie haben mal notiert, die Formen dürften nicht melodramatisch sein...
Genau. Sie dürfen nicht melodramatisch sein. Aber die Geschichten sind heftig. Und das kann ich konterkarieren, indem ich eine sehr strenge Form habe. Das heißt eben auch wenige Materialien. Irgendwann hat sich diese Vorliebe für Draht und Plastik ergeben. Bis jetzt konnte ich bei den Installationen mit der Kombination Plastikfolie/ Metall sehr viel machen. Das heißt nicht, dass ich künftig alle Installationen mit diesen Materialien bestreiten werde. Aber das war bis heute nach reiflicher Prüfung immer wieder eine gute Ausgangslage.

Was assoziieren Sie mit diesen Materialien?
Metall ist ein uraltes Material der Menschheit, Plastik ist unsere Zeit. Die Themen, die ich anschneide, kommen in der Gestalt von Menschen, die entweder noch leben oder vor kurzem gestorben sind. Nur selten nehme ich solche sagenhaften Gestalten mit hinein, wie den Erzengel oder den Odysseus... .

...man könnte mit dem Plastik die Zeltplanen der Flüchtlinge assoziieren...
...ja, die Menschen, die sich jetzt auf den Weg machen, die müssen mit den Bruchstellen unserer Zeit umgehen. Plastikboote, Plastikplanen, Plastikflaschen. Das bindet diese Themen an unsere Zeit. Andererseits sind es archaische, uralte Menschheitsthemen. Geflohen sind die Menschen schon immer. Jeder Krieg verursacht Flucht. Das Vergewaltigungsthema ist auch ein Menschheitsthema, wie auch die Unterdrückung der Frau.

Kommen wir noch einmal zurück auf das Bildnerische...
Zu einem gewissen Zeitpunkt wollte ich diese Geschichten in meine künstlerische Arbeit mit hereinnehmen. Es ist tatsächlich so, dass ich diese nicht gegenständliche Art, wie ich die Kunst betrieben habe, auffüllen wollte mit dem Thema, das ich als Künstlerin immer hatte: Logos und Chaos. Die Struktur, das Geordnete und das sich frei Entfaltende und eben auch gefährlich Chaotische. Das wollte ich immer zusammenbringen in meiner Kunst, in meinen Zeichnungen. Dieses Thema hat sich plötzlich aufgefüllt mit Geschichten. Ich wollte die Geschichten in die bildnerische Arbeit hereinbringen und habe daraus einen für mich völlig neuen Typus von Arbeit entwickelt: die Installationen. Bei den Installationen sind ein bildnerisches Mittel immer Texte.

Woran lässt sich, wie Sie es selbst formulieren, "dieses Ringen um ein gespanntes Verhältnis von Chaos und Logos" in Ihren Zeichnungen und Installationen festmachen?
Das gespannte Verhältnis von Logos und Chaos verstehe ich so, dass es nicht darum gehen kann, so etwas wie Harmonie, eine befriedete Ausgeglichenheit zu erzeugen. Ich gehe eher davon aus, dass Logos und Chaos in einem starken Gegensatz zueinander stehen und dadurch eine große Spannung zwischen diesen beiden Polen herrscht. Ich sehe das nicht als Ruhezustand, sondern als Ruhezustand durch die Spannung. Der Einzelne steht sozusagen in der Mitte. An beiden Armen ziehen diese Pole. Das hat sich für mich in den frühen 90er Jahren als Vorstellung entwickelt. Je besser man dem Druck oder Zug von beiden Seiten standhalten kann, nicht auf die eine oder andere Seite ausweicht, umso tatkräftiger kann man sein, umso mehr kann man sich ins Leben einbringen, umso mehr kann man auch die Fülle des Lebens erleben. Das ist schwer. Diese Gespanntheit muss man aushalten. So empfinde ich auch mein eigenes Leben. Die Spannung ist interessant, aufregend, aber auch anstrengend. In der Psychiatrie ist es tatsächlich so, dass die Patienten immer in eine Ecke driften. Das ist der Ort, wo alle Menschen nicht in der Mitte stehen, sondern hin- und hergezogen werden.

Nochmals: Wo lässt sich dieses Spannungsverhältnis, wo lässt sich diese Mitte zwischen Logos und Chaos, in der Sie sich selbst sehen, festmachen?
Ich sehe die Installationen in der Spannung. Sie sollen schön im Sinne von anziehend aussehen, mit dem glitzernden Draht, diesen ansprechenden Formen, wo ich mich beim Material sehr beschränke, wo ich um eine wohl geordnete Form ringe. In dem Augenblick, wo man sich mit den Texten beschäftigt, wird man sehr weit hinabgeführt in schwierige Erlebnisse und schwere Verhältnisse.

Das wäre dann mehr die chaotische Komponente?
Ja. Diese Geschichten sind eigentlich alles Niederschriften von chaotischen Erlebnissen oder einem chaotischen Leben. Bei der "Verpackung", wie ich diese Geschichten präsentiere, ist es mir ganz wichtig, dass der Betrachter nicht mit brutalen, schockierenden Bildern konfrontiert wird, einen das nicht schon chaotisch anspringt. Er soll nicht als Schaulustiger herankommen. Der Betrachter soll also von einer Form gelockt werden, die ihn zu interessanten Gedanken inspiriert. Dazu ist für mich auch der glitzernde Draht wichtig. Der Betrachter kommt hin und nimmt dann anderes wahr. Das irritiert und fordert ihn zum Nachdenken heraus.

Das heißt, die Ästhetik spielt für Sie erst einmal eine Rolle? Das Visuelle, die Ästhetik, wenn Sie den Begriff "schön" verwenden.
Nur wenn es mir als bildende Künstlerin gelingt, eine anziehende und präzise Form für meine Inhalte zu entwickeln, mache ich meine Arbeit. Das ist für mich die Definition des bildenden Künstlers, dass es eine präzise Form gibt, die nicht anders sein dürfte für das Werk.

Obwohl der Inhalt eigentlich den Gegenpol darstellt. Der ist ganz schrecklich für den Betrachter.
Ja. Aber ich glaube, dass die Form, die ich dafür wähle, anziehend sein muss, sonst schaut niemand das Werk an. Präzise deshalb, weil jedes Kunstwerk, das nicht präzise ist, eine Zumutung darstellt.

Am Anfang des Katalogs steht eine Zeichnung. In welchem Zusammenhang ist diese Zeichnung wichtig für die abgebildeten Installationen?
Ich möchte zunächst einmal zeigen, dass ich eine Zeichnerin war und immer noch bin. Der Stift, die zeichnerischen Mittel sind mir einfach sehr vertraut und sind immer erstes Ausdrucksmittel, auch wenn ich für die Installation eine Skizze mache. In den frühen Zeichnungen sehe ich die erste Bewältigung des Themas Logos und Chaos. Ich habe damals die Idee entwickelt, eine Struktur zu schaffen. Das waren Fliesenwände, auf die ich das Papier gelegt und darauf dann frei entfaltend gezeichnet habe. Diese Idee, dass die sich frei entfaltende Zeichnung und die Struktur − weil es ja Frottagetechnik ist − simultan entstehen, hat mich damals so begeistert, dass ich Tag und Nacht zeichnete. Diese Idee also, dass Logos und Chaos wirklich zusammen entstehen, war für mich ein Glücksgefühl. In dieser Zeit habe ich eine zeichnerische Handschrift entwickelt, aus dem Körper heraus, aus dem Arm, sehr gestisch. Wenn ich mir anschaue, wie ich dieses "Gewirke" mit Draht in die Luft zeichne, habe ich schon den Eindruck, dass es kein so großer Unterschied ist, ob man eine Linie auf das Papier zeichnet oder mit dem Draht in der Luft Verschlingungen produziert.

Die Zeichnung am Anfang des Katalogs ist ein Ausschnitt aus einer Zeichnung. Dieser Ausschnitt hat dann eine Nähe zur Verwendung des Drahtes in der Installation, und zeigt, wie Sie mit dem Draht zeichnerisch umgehen?
Ja. Dass ich dann in den Raum gegangen bin, hat auch etwas damit zu tun, dass sich die Zeichnung auffüllt mit Geschichten von Menschen. Ich hatte während meines Akademiestudiums mit Bildhauerei eigentlich keine Berührungspunkte, außer im Aufbaustudium Architektur und in der Zusammenarbeit mit einer Bildhauerklasse. Richtig los ging es mit den Installationen zu einem späteren Zeitpunkt. Ich denke mir, das ist auch eine Konsequenz, nämlich das Anfüllen einer ungegenständlichen, man kann sagen abstrakten Idee oder Vorstellung mit Leben, mit den Geschichten von Menschen. Das musste dann in den Raum. Obgleich die Geschichten geschrieben sind, sind sie präsenter im Raum, in einem Schiff, in einem Kubus.

Lassen Sie uns nochmals zum Betrachter kommen. Wenn ich die Texte lese und mir die Installationen anschaue, dann stellt sich für mich die Frage: Wie möchte Reinhild Gerum, dass ich reagiere? Gibt es Ihrerseits eine Erwartungshaltung an den Betrachter?
Ich wünsche mir, dass die Betrachter sich mit diesen Inhalten stark konfrontieren, dass sie sich eben nicht abschrecken lassen, dass sie sich von meinen visuellen Erscheinungen, von meinen Formen genügend anziehen lassen. Dann wünsche ich mir, dass die Betrachter nicht nur erschreckt wieder einen Schritt zurück machen und sagen: Was da alles passiert! Hoffentlich geht mich das nie etwas an! Aus diesem Bewusstsein heraus ihr Leben und ihr Handeln dann vielleicht ein bisschen distanzierter betrachten, und denjenigen Leuten gegenüber, denen es in diesen Situationen sehr schlecht geht, ein bisschen offenherziger oder toleranter begegnen.

Dahinter steht doch eine ganz große Erwartungshaltung an den Betrachter. Er kann schon auf Grund der Texte nicht einfach sagen, gefällt mir oder gefällt mir nicht.
Eine Aufgabe von Kunst ist es, dem Betrachter Fragen zu stellen. Und diese Fragen sollen dann auch wirken. Die Frage "Gefällt es mir?" kann sich der Betrachter auch stellen bzw. die stellt er sich nicht, die beantwortet er sofort in dem Augenblick, in dem er ein Kunstwerk sieht. Und die wird dann auch beantwortet. Er geht entweder hin und schaut sich das Werk an, oder nicht. Das ist ja die Voraussetzung, dass er die Frage überhaupt auf sich zukommen lassen kann, dass er die Installation sieht und im positiven Fall sagt, "die gefällt mir – sieht ja interessant aus", und hingeht. Dann kommen die Fragen. Es ist eigentlich ein zweistufiges Verfahren.

Dürfte er es auch dabei belassen zu sagen, "das ist schön"?
Ja, das dürfte er schon, denn es ist ja auch schön. Da hat er dann nur eine Ebene. Ich definiere ein gutes Kunstwerk auch so, dass es von der Weite sehr anzieht und beeindruckt, den Betrachter sozusagen dazu nötigt hinzugehen, dass es in der Nähe dann aber noch mal eine andere Betrachtungsebene bietet.

Kommen wir auf einen weiteren Werkzyklus zu sprechen, der sich stark abhebt von den übrigen Arbeiten. Sie haben diesen als "Standortbestimmungen" bezeichnet.
Der gesamte Zyklus ist parallel zu den Installationen in den letzten zehn Jahren entstanden. Ich habe vorhin davon gesprochen, dass die Kunst Fragen stellen muss/ kann, dass das eine Aufgabe der Kunst ist. Die andere Aufgabe ist tatsächlich, dem Betrachter keine Fragen zu stellen, sondern ihn mit Energie aufzuladen, mit Zuversicht, die positiven Ressourcen des Betrachters zu stärken, affirmativ zu wirken. Diese Arbeiten habe ich wenige Tage nach dem 11.September 2001 begonnen aus dem Schock und aus der Beobachtung heraus, dass viele um mich herum eine Art magische Trauerarbeit geleistet haben. Also Mittrauern, ja Mitjammern aus dem Grund, dass einem so etwas selbst nicht passiert. Gegen diese Betrachtung, gegen diese Art von Einfühlung habe ich mich sehr gewehrt, denn es war dort ein willkürliches Ereignis, das nur indirekt etwas mit meinem Leben zu tun hatte. Ich wollte mich gegen dieses Hineinsteigern wehren und habe begonnen, diese starke Farbigkeit zu benützen. Das gegenstandslose Arbeiten bot mir die Möglichkeit der Versachlichung, durch die Farbe konnte ich die eigene Energie hoch schäumen zu lassen.

Aber auch um die Energie des Betrachters zu steigern?
Ja, denn sonst wäre es ganz belanglos, das zu tun, wenn ich als Künstlerin etwas mache, was dann nicht auch den Anspruch hätte, für den Betrachter interessant zu sein.

Nicht interessant, es geht um Energie.
Ja. Energie zu zeigen, um den Betrachter an dieser Energie teilhaben zu lassen. "Standortbestimmungen" habe ich den Zyklus deshalb genannt, weil ich in der Zeit der Verwirrung und der Verunsicherung – man darf nicht vergessen, dass sogar das Oktoberfest abgesagt werden sollte, was tatsächlich etwas bedeutet in München – wissen wollte, wo meine Energie ist. Wie viel Anteil hat die dunkle Farbe? Wie viel Anteil hat die helle Farbe, die stark farbkräftige, die strahlende Farbe? Ich wollte die Kraft, mich dagegen zu wehren, mir selbst und dem Betrachter zeigen. Ich habe nicht gedacht, dass das ein Prozess ist, der mich so lange begleiten wird. 2003 habe ich eine lange, farbig leuchtende Bahn gearbeitet, die von der Decke herabhängt und weit in den Raum reicht; eine Chronik der akuten Kriegsvorbereitungen zum Irakkrieg. Während in den USA der Krieg vorbereitet wurde, hatte ich eine Ausstellung vorzubereiten. Bei dieser Arbeit habe ich mich der leuchtenden Farbe bedient, Schrift verwendet, nämlich die Schlagzeilen der Zeitung, und bin in den Raum gegangen, habe also meine bildnerischen Mittel zusammengeführt. Diese Gleichzeitigkeit der Kriegsvorbereitung und der persönlichen Realität hinzunehmen und trotzdem nicht stumm zu bleiben, war eine große Herausforderung.

Welche Bedeutung haben die Zeichnungen denn heute für Sie?
Es ist immer wieder ein Abtasten. Was ist jetzt los? Tatsächlich habe ich vor wenigen Monaten wieder eine solche Zeichnung gemacht.

Also ist eine sehr persönliche Komponente dabei?
Ja.

Als Ausgleich zu der Arbeit an den Installationen?
Ich habe mich so oft mit dem Thema beschäftigt: Die Kunst muss Fragen stellen. Aber tatsächlich gibt es auch in der Vergangenheit so oft Kunst, die in erster Linie keine Fragen stellt, die affirmiert. Zustände und Umstände und politische Bedingungen. Man kann mit den politischen Bedingungen manchmal gar nicht einverstanden sein, und trotzdem sind es großartige Kunstwerke. Die zweite Seite, dass die Kunst eben Kraft einfach affirmiert und Energie geben muss, darf man nicht zu gering schätzen. Das ist sehr wichtig! Der Ansatz war nicht so theoretisch, ich habe es einfach gemacht. Aus dem Gefühl heraus, sich jetzt nicht runterziehen zu lassen, jetzt nicht einzustimmen in dieses Wehklagen. Man muss sich in solchen Situationen immer der eigenen Kraft, der Kraft der Kunst besinnen. So sind die "Standortbestimmungen" entstanden.

Formal unterscheiden sich die "Standortbestimmungen" von den Installationen völlig. Wo sehen Sie denn das Verbindende durch Ihre Handschrift?
Ich glaube, weil es etwas ist, was weit weg ist. Ich kenne den New Yorker Feuerwehrmann, die Geschichten, die in New York passiert sind, nicht. Ich habe nie jemanden kennen gelernt, der betroffen war. Damit bin ich völlig selbstverständlich wieder ins Zweidimensionale gegangen. Das war der erste Schritt. Zeichnerisch, von der Handschrift her, gibt es schon wieder Affinitäten. Die Linie hat sich ein bisschen gestreckt, aber das liegt auch sehr stark am Werkzeug. Mit dem Messer kann man einfach nicht gut in die Kurve gehen.

Das heißt, die Arbeiten sind mit dem Messer entstanden?
Die Arbeiten sind nicht mit einem Stift gezeichnet, sondern ich trage das Material zuerst auf, dann mit dem Messer wieder ab. Durch das Werkzeug hat sich die zeichnerische Handschrift etwas geändert. Das Cuttermesser ist ein gefährliches, aggressives Werkzeug. An die schöne, glatte Ölpastellschicht mit so einem groben, aggressiven Werkzeug heranzugehen und das Rot, das immer energetisch ist, herauszuholen, das ist für mich als Ausführende eine aufregende gestische Erlebnisebene.

Wenn ich als Katalogleser anfange bei der Abbildung eines Zeichnungsausschnitts und über die Installationen zu den "Standortbestimmungen" komme, frage ich mich unwillkürlich, wie hängt das alles zusammen. Sie haben vorhin gesagt, den Feuerwehrmann kannte ich nicht, deshalb bin ich automatisch wieder ins Zweidimensionale gegangen. Diejenigen Personen, die eine Rolle spielen und Auslöser waren für die Installationen, haben Sie auch alle selber gesprochen. Ist das Zweidimensionale das etwas Distanziertere, die Installation das sehr viel Involviertere, Persönlichere?
Ja. Das glaube ich ganz sicher. So sind die Installationen zustande gekommen, weil ich involvierter war. Das Involviertere betrifft den ganzen Menschen, dadurch kommt das Bedürfnis nach dem Raum zustande.

Um nochmals zum Ursprung zurück zu gehen. Wie kommen Sie denn überhaupt auf diese Themen? Die Thematik der menschlichen Existenz, der menschlichen Tragik? Wo hat das seinen Ursprung?
Ich glaube, dass jeder Mensch solche Erlebnisse hat. Zwar nicht gleich in so einer dramatischen Tragweite, aber man hat doch von frühester Jugend an Erlebnisse, die einem die Brüchigkeit der eigenen Existenz zeigen. Ich habe mir überlegt, was stecken da für Menschen dahinter, wenn ich das in der Zeitung gelesen habe. Zeitung war für mich immer eine Fundgrube. Aber auch Krankenwagen, die an mir vorbeigefahren sind, Hubschrauber, die über mir geflogen sind, immer habe ich sie so betrachtet: Wer liegt da drin? Was ist da passiert? Wie geht es mit diesem Menschen weiter? Und wie geht es mit Dir weiter? Mir ging es immer gut, ich konnte immer tatkräftig sein. Trotzdem habe ich diese Geschichten immer an mich heran gelassen.

Das heißt, das Werk hat eigentlich sehr stark mit Ihnen und Ihrer eigenen Persönlichkeit zu tun? Eigentlich mehr als mit den Geschichten dieser Menschen? Es ist eigentlich Ausdruck ihrer eigenen Befindlichkeit, ihrer eigenen Persönlichkeit, ihrer Gefühle, ihrer Ängste?
Ich glaube sowieso, dass man nur das ausdrücken kann, was man wenigstens ansatzweise einmal selbst erfahren hat. Wichtig ist, aus der eigenen Erfahrung heraus zu abstrahieren hin zu allgemeineren Fragestellungen. Die Frage, wie man lebt, wie man überhaupt durch das Leben kommen kann, die muss sich ja jeder stellen, wenn es ein erfülltes Leben sein soll. Ich bin schon früh darauf gekommen, dass man sich vom Augenblick inspirieren lassen muss, von der Unübersichtlichkeit nicht abschrecken lassen darf und sich auch in Ungewissheiten stürzen muss. Man kann das aber nur, wenn man sich auch wieder Überblick verschaffen kann. Ob ich ein Haus baue oder eine Reise mache: Diese beiden Voraussetzungen, Überblick und Neugierde auf sich zufällig Entwickelndes, braucht man immer.

Was jetzt noch gar nicht richtig zur Sprache gekommen ist, ist Ihre Arbeit in der Psychiatrie.
Ja, in der Zwischenzeit weiß ich, dass ich nicht durch Zufall dahin geraten bin. Zunächst habe ich mich mit Zeichnungen, die in der Psychiatrie entstanden sind, beschäftigt. Ich war auch mit einem Psychiater zwei Jahre im ständigen Austausch über bildnerische Arbeit in der Psychiatrie. Dann bot mir ein Stipendium genau zum richtigen Zeitpunkt die Möglichkeit, in einer großen psychiatrischen Klinik mit Patienten bildnerisch zu arbeiten. Die Psychiatrie ist der Ort, an dem diejenigen Leute sind, die Logos und Chaos überhaupt nicht im Gleichgewicht halten können. Ich kann dort regelmäßig erfahren, was das heißt, was bildnerische Arbeit dort bewirken kann. Die bildnerische Arbeit bringe ich zu diesen Leuten. Das ist eine wunderbare Fügung! Ja, das, was ich durch mein Werk an bildnerischer Erfahrung habe, das Denken über Werke, auch das handwerkliche Können, die Hilfestellungen, was man beim Arbeiten, beim Bildnern aushalten muss, was man auch vollzieht bei dieser Arbeit als Prozess, wenn man all das nicht übermitteln, also abgeben könnte an irgend jemanden, der sich dafür interessiert oder dem es hilft, das wäre schade! Es ist wichtig, dass der Künstler diese Erfahrungen nicht nur dazu verwendet, tolle Werke zu schaffen, sondern es ist auch für ein Gemeinwesen, eine Gesellschaft, wichtig, dass diese Erfahrungen auf andere Weise wieder an die Menschen zurückkommen.

Ist das Weitergeben bildnerischer Fähigkeiten, Impulse, die Sie als Künstlerin erleben und die Sie in Ihrer eigenen Arbeit umsetzen, Therapie? Oder ist es der Versuch, mittels dieser erarbeiteten Fähigkeiten anderen beim Bearbeiten, beim Sichtbarmachen ihrer Geschichte behilflich zu sein?
Ja, ich gebe Impulse, und für meine Klienten entsteht dann ein ganzer Kosmos von Möglichkeiten sich auszudrücken. Über die Bilder kommen natürlich auch Gespräche zu Stande, sowohl über die Form als auch über die Bedeutung der Bilder, und schon sind wir mitten in der therapeutischen Arbeit. Wichtig ist, dass dieses bildnerische Arbeiten Spaß macht und trotzdem ganz ernst genommen wird. Dieses Tun ist das Therapeutische!

Was trauen Sie der künstlerischen Bearbeitung zu?
Der traue ich alles zu!

Reinhild Gerum ©2012